Warum hat der Islam keine Kirche? Und was er stattdessen braucht

Sobald man die Aussagen von Noch-Nicht-Muslimen über Islam liest, selbst von Wohlmeinenden, dann fällt vor allem auf, dass sie nicht wissen und nicht verstehen, was Islam eigentlich sein soll. Irgendwie scheint er wie ein Ableger des Christentums zu sein und irgendwie doch völlig anders (aber nie im Positiven verstanden).

Im Grunde genommen würden es die Muslime fast genauso definieren. Denn sie liefern bis heute den Noch-Nicht-Muslimen keine Lehre, auf die sich diese beziehen könnten, auf die sie antworten könnten, die ihnen etwas vom Islam verständlich erklärt.

Was ist denn nun die islamische Lehre? Da fällt eben allen gleichermassen nur ‘Scheria’ ein. Scheria aber ist praktisch formuliert durch die Mezheb, also den Rechtsschulen. Was nun machen Rechtsschulen? Genau, sie fragen nach den Grundlagen von Recht- und Rechtsprechung, und dazu noch die Formulierung von religiösen Riten. Dabei machen diese Bereiche nur einen Minimalteil des Qur’ans aus.

Eine wirkliche theologisch ausformulierte Lehre, ein auf Gott bezogenes Philosophieren, dagegen gibt es im Islam nicht. Hans Küng formulierte einst sein Erstaunen über den Islam mit den Worten: ‘der Islam hat keine Theologie, sondern eine Theopraxie’, d.h. der Islam lehrt eigentlich nur, wie man sich verhalten solle, aber es gibt nichts, womit man sich als Lehre auseinandersetzen könnte. Das ist griffig und nett formuliert, hat ihm und auch allen anderen aber im Verständnis des Islams nicht wirklich geholfen.

Und vor allem: was haben Rechtsschulen für normale Rechtsfälle des täglichen Lebens mit Religion, mit dem Verhältnis zum GÖTTLICHEN zu tun? Fehlt da nicht etwas?

Warum ist das so und was ist jetzt eigentlich der Islam und worin unterscheidet er sich von den anderen Religionen? Weshalb hat er scheinbar keine Lehre und keine verwertbaren Antworten auf diese Fragen? Irgendwie erkennt er das Christentum an, sieht sich selbst als nachfolgende Religion mit Jesus als verehrten Propheten und irgendwie aber auch klar nicht, bezeichnet er doch jene, die an die GÖTTLICHKEIT von Jesus, Sohn der Maria glauben, als Kafir.

Es fehlt im Islam aber nicht nur eine ausgearbeitete Lehre, wie sie das Christentum hat, sondern es gibt auch keine religiöse Organisation, die berechtigt wäre, klare Antworten zu geben.

Doch woher kommt diese für andere Religionen so seltsame Struktur oder vielmehr Nicht-Struktur und was ist eigentlich die muslimische ‘Struktur’ und warum ist sie so, wie sie ist?

Verständlich wird diese muslimische ‘(Nicht-)Struktur’, wenn man sie als eine Antwort auf die Religionen versteht, auf deren Probleme der Islam in seiner Entstehungszeit antwortet und die er für die Menschen verbessern will. Besonders also das damals vorherrschende Christentum:

Das damalige Christentum des Oströmischen Reiches war geprägt durch ein Staatskirchentum, welches rigoros nach innen alle Meinungen und Verständnisweisen ausserhalb der offiziellen Kirchenlehre/Theologie verfolgte und ausschaltete, also Christen mit anderen Überzeugungen als denen der staatskirchlichen Doktrin. Nach aussen arbeitete dieses Staatskirchentum zur Verbreitung seiner Lehre gern mit dem Oströmischen Staat zusammen und unterstütze aktiv dessen Kriegführung.

Es gab also eine theologische Lehre/Ideologie, die durch den Staat als Staatsreligion abgesichert war und aktiv andere religiöse Lehren verfolgte und ausmerzte, sowohl andere christliche Auffassungen als auch grundsätzlich alle anderen Religionen.

Der frühe Islam trat nun an mit einer grundsätzlichen Kritik sowohl an den Inhalten dieses Christentums als auch an seiner Praxis der Intoleranz an. Der Islam stellte dem im Qur’an sein ‘kein Zwang in der Religion’ ebenso gegenüber wie die qur’anische Forderung, zu kämpfen, bis die Religion für alle Menschen frei ist. Denn der Islam verstand sich nicht als ein neues religiöses Dogma neben den bisherigen, schon vorhandenen Dogmen, sondern als eine neue Art und Weise, Religion, das Verhältnis zum GÖTTLICHEN, zu denken und zu leben.

An die Stelle ideologischer Glaubensbekenntnisse setzte diese neue religiöse Bewegung eben ‘Islam’, das arabische Wort für ‘Hingabe’ (eng verwandt mit ‘selam’ = ‘umfassender Friede’) und einen uneingeschränkten Monotheismus. ‘Hingabe’ aber kennt in der Gottesbeziehung keinen Kippschalter eines Entweder-Oder, eines entweder richtigen Bekenntnisses oder falscher Verworfenheit, sondern eine fliessende Gottesbeziehung von – im positiven Fall - ‘immer-mehr’. Eine das ganze Leben hindurch immer weiter in der ‘Hingabe’, also der Liebe und der Bewusstheit, wachsende Beziehung zum GÖTTLICHEN in ihren vielen, den einzelnen Menschen umwandelnden und verbessernden Aspekten, ist ein völlig anderes religiöses Grundprinzip mit einem völlig anderen Religionsverständnis. Es ist nicht-dogmatisch, ausser der natürlichen Voraussetzung aller Religion, dem Voraussetzen/Glauben, dass es ein EINZIGES GÖTTLICHES gibt, welches sich uns Menschen über Propheten zuwendet. Allen Menschen zu allen Zeiten.

Im Islam gibt es daher keine Gottessöhne wie auch immer, keine bösen Gegenkräfte zum GÖTTLICHEN (Teufel) wie auch immer, kein Entweder-oder im religiösen Denken und keine menschlichen Sicherheiten in Bezug auf das Jenseits. Sondern stattdessen endlose Möglichkeiten, die persönliche Beziehung zum EINEN GÖTTLICHEN, die ‘Hingabe’, immer weiter zu intensivieren. Daraus folgt, weil es kein Entweder-oder gibt, auch in Bezug auf die Fortsetzung der menschlichen Existenz nach dieser Welt, oft zusammengefasst unter dem Gleichnis ‘Paradies’, allein SEINE unvorhersagbare Entscheidung. Denn auch in Bezug auf SEINE Entscheidung bezüglich des Jenseits ist nur ‘Hingabe’ möglich, keine ideologische Scheinsicherheit. Nur ER allein schaut in die Herzen und entscheidet nach den Herzen der Menschen, nicht nach ihren ideologischen Zugehörigkeiten.

Da nun Ostrom mit seiner Staatskirche grundsätzlich für seine Bewohner keine religiösen Wahlfreiheiten ermöglichte, kein Bekanntwerden mit anderen religiösen Möglichkeiten als den staatlich kontrollierten Dogmen, blieb einer neuen religiösen Bewegung nichts anderes übrig, als nur zuerst die Regierung zu stürzen, um dann den Menschen religiöse Freiheit zu eröffnen. Ohne Zwang und unter Garantie der bisherigen Religion, aber auch der anderen, bisher unterdrückten, christlichen und jüdischen Gruppen. Und so geschah es.

Bis heute bleibt es doch in der üblichen westlichen Geschichtsschreibung eine offene Frage, weshalb einige arabische Stämme aus der Wüste das oströmische Grossreich nicht nur besiegen, sondern im Anschluss daran ohne Widerstände der christlichen Bevölkerung auch halten konnten. Schaut man dies aber von der Perspektive aus an, dass jetzt verschiedene, vorher verfolgte christliche Gruppen ebenso wie die Juden und jede Art von Religion, auch die ehemalige Staatskirche, unter der neuen islamischen Regierung erstmals frei und unbehelligt zusammenleben und sich entfalten konnten, wird vieles verständlicher. Die islamische Religionsfreiheit wurde auf diese Weise zum Startpunkt für eine mehr als tausendjährige Weltleitkultur.

Denn nach dem politischen Sieg der islamischen Bewegung gegen Ostrom setzte diese ihre neuen Prinzipien um in eine Garantie für die jetzt in ihrem Reich lebenden Christen – und zwar unabhängig von deren Verständnis von Christentum. Jede Art von Christentum war akzeptiert. Und dabei blieb es tatsächlich über Jahrhunderte. Es ist diesem Vorgehen und diesem Religionsverständnis des Islams zu verdanken, dass es völlig unterschiedliche christliche Gruppierungen im Orient bis auf den heutigen Tag gibt. De facto haben sie alle nur durch den Sieg des Islams überlebt, seien es die koptische bis hin zur maronitischen und assyrischen Kirche. Unter einer christlichen Staatskirchenherrschaft wäre das Überleben unterschiedlicher christlicher Gruppierungen dagegen unmöglich gewesen. Auch die Zwangskonvertierung der Juden, die Anfang des 7. Jahrhunderts von Ostrom eingeleitet worden war, fand damit ein Ende und starke jüdische Gruppen lebten nirgendwo so frei und unbehelligt wie im islamischen Staatsgebiet. Mal so nebenbei erwähnt.

Was in der westlichen Geschichte Jahrhunderte von Bürgerkrieg und schliesslich in der Neuzeit eine Trennung von Staat und Kirche unter dem Primat des Staates brauchte, galt im Islam von Anfang an als ein dem GÖTTLICHEN hingewandtes und wohlgefälliges Grundprinzip.

Doch das war nur die eine Seite der islamischen Befreiungsbewegung, die nach aussen. Die andere Seite betraf die Entwicklung nach innen, also die eingangs gestellte Frage nach der Entwicklung der islamischen Lehre nach dem Ableben des Gesandten (sas). Wie kam es zu Rechtsschulen als Ausdruck religiösen Verständnisses und wodurch wurden sie ergänzt?

Der Gesandte Muhammed (sas) hatte deutlich und absichtlich auf die Formung einer Kirche ebenso verzichtet wie auf eine Priesterschaft – eben auch als Antwort auf die religiös-politischen Verhältnisse in der christlichen Welt. Im Islam galten dagegen von Anfang an die Prinzipien der Gleichheit aller Gläubigen und des individuellen Verhältnisses jedes einzelnen Menschen zum GÖTTLICHEN. Auch dies ein Effekt von Religion als ‘Hingabe’, die eben nicht von einer Priesterschaft verwaltet und kontrolliert werden kann, sondern die immer individuell unterschiedlich und entwicklungsfähig ist. Gemäss diesem Verständnis von Verhältnis zum GÖTTLICHEN sind die Menschen eben unterschiedlich – und trotzdem ok. Und das muss/darf von keiner religiösen Organisation kontrolliert werden.

Göttlichen Ursprungs ist im Islam daher allein die Botschaft des Qur’ans, alles andere, auch die Propheten, sind Menschen. Es gibt keine Gottmenschen oder Menschgötter. Grundsätzlich nicht. Dementsprechend kann es auch keine Organisationen welcher Art auch immer geben, die über einen angeblich Heiligen Geist GÖTTLICHE Unfehlbarkeit oder eine ausschliessliche Formulierung der rechten Lehre für sich beanspruchen dürfte.

Es gibt nur den GÖTTLICHEN Qur’an und danach nur noch vielfältige menschliche Arten des Umgangs mit und der Deutung Qur’ans. Doch was stellt das gemeinsam Verbindende zwischen den Muslimen dar, wenn es nicht die erzwungene Ideologie, die zementierten ‘Glaubenssätze’ sind. Es ist die gemeinsam geteilte Praxis – und auch darin gibt es vielfältige Unterschiede.

Als die beste Art des Umgangs und des Verständnisses des Qur’ans gilt natürlich der Prophet (sas), dessen Verhalten damit zum Leitbeispiel wird - doch auch er ist ein Mensch. Wieviel mehr gilt dieses Mensch-Sein also erst für andere, die Generationen später die rechte Anwendung der qur’anischen Lehre und Praxis zu formulieren versuchen.

Ausserdem gelten die qur’anischen Grundsätze: ‘Kein Zwang in der Religion’ und ‘kämpfe, bis alle Religion frei ist’ (d.h. akzeptiere auch nicht den religiösen Zwang, dem andere ausgesetzt sind, sondern hilf ihnen)

Auf diesen Grundprinzipien, eben in bewusstem Gegensatz zu dem, was man beim ‘Vorgänger’ Christentum erlebt hat, ergab sich die spezifische islamische Struktur, die sich in unterschiedlichen sogenannten Mezheb, Rechtsschulen, in den Generationen nach dem Gesandten (sas) zu formen begann. Rechtsschulen deshalb, weil nach dem GÖTTLICHEN Willen Menschen (selbst Tiere) garantierte Rechte haben, aber keine Kirche/Priesterschaft, die diese Rechte verändern dürfte. Und eine Mehrzahl von Rechtsschulen, weil sie alle eben menschliche Deutungen des Qur’ans entsprechend unterschiedlichen Umständen sind und sich keine auf einen Heiligen Geist berufen durfte:

  • Keine Kirche oder Organisation, die verbindlich für alle eine Lehre vertreten dürfe
  • Kein Staat, der eine verbindliche religiöse Lehre fordern oder aufbauen dürfe
  • Jeder Muslim ist automatisch auch Priester, also religiös Handelnder, auch für alle anderen, z.B. als Vorbeter, und darf sein Verständnis des Qur’ans vertreten
  • Muslim zu sein bedeutet nicht, einen bestimmten Glaubenssatz ideologisch zu vertreten, sondern es bedeutet vor allem, kein Christ zu sein, bzw. einem ideologischen starren Glaubensprinzip anzuhängen, da diese eben mit ihrem ideologischen Glaubensverständnis und ihren daraus hervorgehenden Theologien die GÖTTLICHE Weite und die menschliche Realität unzulässig bedecken (arabisch: Kafara). Muslim zu sein bedeutet vielmehr, alle einschränkenden Formen von religiösen Denkmodellen abzulehnen
  • Da es keine offizielle Theologie oder Kirche gibt, kann jeder Muslim denjenigen Lehrern folgen, die seinem Verständnis von Islam am besten entsprechen
  • Daraus ergab sich für die praktischen staatlichen Bedürfnisse eine Gruppe von Leuten, die aus dem Qur’an die Überprüfung der Gesetze eines Landes ableiteten und entsprechend Recht sprachen: verschiedene Mezheb, die zusammen die sog. ‘Scheria’ (‘Weg’), den ‘Weg’ bezüglich der irdisch-sozialen Dimension formulierten
  • Und für die eigentlich religiösen Bedürfnisse der Menschen gab es jene, die aus innerer Erfahrung und Praxis heraus den Qur’an auf die innere Entwicklung anwandten, die sog. ‘Tariqa’ (ein anderes Wort für ‘Weg’), den Weg bezüglich der Seelenentwicklung hin auf das Göttliche
  • ‘Scheria’ und ‘Tariqa’ galten dabei als Zwillingsbrüder, gleichermassen menschlichen Ursprungs, ohne Hinweis auf einen angeblichen Heiligen Geist und waren als einander ergänzend entwickelt und gesehen. Sie beide zusammen schufen die praktischen Möglichkeiten für jeden Muslim, seine individuell ersehnte Form von ‘Hingabe’ zu leben. Für die einen reichen Riten und Regeln des sozialen Zusammenlebens, andere wollen sich zusätzlich durch innere Veränderung auf das GÖTTLICHE zubewegen. Sie alle können sich entsprechend ihrer individuellen Entwicklung in ihrem Leben die ihnen jeweils passenden Lehrer suchen. So gab es sowohl eine Lehre des rechten sozialen Verhaltens und der rechten Ausübung der Riten (gelehrt von unterschiedlichen Rechtsschulen, denn auch in diesen Bereichen gab es keine für alle verbindliche einheitliche Lehre) und eine Lehre der Gottesliebe/Gottesbewusstheit (ebenfalls von unterschiedlichen ‘Lehrschulen’ mit unterschiedlichen Richtungen vertreten). Die Lehrer beider Arten von ‘Weg’ sollten mindestens Basiswissen vom jeweils anderen besitzen
  • Dementsprechend gab es auch keine Missionsbewegung, sondern die jeweiligen Lehrer standen allen Menschen offen, die mit ihren religiösen Anliegen zu ihnen kamen
  • Dementsprechend verbreitete der Islam sich erst langsam im Laufe der Jahrhunderte und nie vollständig in den muslimisch regierten Ländern. (Gerade am Anfang der muslimischen Regierung werden die Menschen auch noch Sorge gehabt haben, ob nicht doch wieder das oströmische Reich mit seiner Staatskirche die Macht übernehmen könnte und dann eben gerade nicht religiöse Vielfalt akzeptieren, sondern die Muslime einfach umbringen würde. Was dann im 19. Jahrhundert prompt sofort überall dort geschah (s. Griechenland, Balkan), wo die islamische Regierung verloren ging und die Oströmische Kirche wieder übernahm)

Diese ganz neue religiöse Struktur oder Nicht-Struktur des Islams, sein ‘Immer mehr’ an ‘Hingabe’ statt einem ideologischen ‘Entweder-oder’ ist für Menschen, die nur mehr oder weniger feste ‘Kirchen’-Strukturen mit mehr oder weniger fester Theologie kennen und dazu noch aktive Missionsarbeit - beides stets von staatlicher Macht unterstützt - naturgemäss zunächst nicht nachvollziehbar. Sie vermissen die feste Theologie = Ideologie, die sie doch für das Kennzeichen einer Religion halten. Sie können bei diesem Konzept der ‘Hingabe’ in der Beziehung zum GÖTTLICHEN nicht die angebliche Sicherheit finden, die sie für eine Voraussetzung von Religion halten. Sie haben buchstäblich keine neuronalen Netze 😊 dafür.

Doch das genau kennzeichnet die islamische religiöse ‘Revolution’: Religion ist die vielfältige individuelle Beziehung zum GÖTTLICHEN, ohne feste ideologische oder organisatorische Struktur. ‘Hingabe’ (arabisch: Islam) hat per se keine starre Struktur. ‘Hingabe’ hat Praxis, wie sie innerlich und praktisch gelebt und vertieft werden kann, aber kein Dogma. Sie lehrt, wie ‘Hingabe’ immer mehr vertieft wird und wie man sich geistig vor falschen religiösen Ideologien (kafara = das Bedeckende) schützt. Und dieses Lernen findet über Lehrer, Praktizierende, der eigenen Wahl statt.

Ohne ein Verstehen dieses revolutionären Umbruchs im religiösen Prinzip (wachsende Hingabe statt ideologischer Glaubensgewissheit) suchen die Christen im Islam verzweifelt ihr eigenes Verhalten, Denkweisen, Strukturen: wo ist die Kirche, wo ist die Heilsgeschichte, wo ist die eine theologische Lehre, wo ist die Missionsarbeit, etc.? Ohne solche Dinge erscheint den Christen eine Weltreligion, die tausend Jahre lang die Weltleitkultur formte, überhaupt nicht möglich.

Doch offensichtlich geht das nicht nur sehr gut, sondern es war über tausend Jahre lang der positive Gegenentwurf zu den christlichen Kirchen.

Die heutige Situation allerdings hat sehr viele staatliche Rahmenbedingungen für die Muslime verändert. Die christlich-westliche Kultur und Denkungsart hat politisch seit dem Kolonialzeitalter bis heute immer mehr den geistigen und unmerklich auch den religiösen Diskurs übernommen. Die Positivität der Vielfalt der islamischen Botschaft und Struktur wird überhaupt nicht mehr verstanden, auch von den Muslimen selbst nicht mehr. Stattdessen haben staatliche Akteure das westliche Vorbild auch im religiösen Bereich übernommen und vielfältige islamische Äusserungsformen verboten und mit Gewalt eliminiert. War einst ihre Vielfalt der Stolz der islamischen Welt und kannten die Muslime selbst in Bezug auf den Qur’an mindestens sieben verschiedene Lesarten, so gibt es seit dem politischen Primat der christlich-westlichen Welt in den verschiedenen muslimischen Staaten unterschiedlich starke Bemühungen, die vorherige Vielfalt ihrem Wunsch nach Einheitlichkeit staatlicher Vorgaben zu unterwerfen.

Die islamische Botschaft erscheint heute nicht mehr als die positive Alternative zum Christentum und ihre einstige auch interne Praxis der Zusammenarbeit von Scheria und Tariqa und das individuelle ‘Folgen’ der persönlich ausgewählten Lehrer sind allesamt nur noch eine vergessene Vergangenheit.

Heute geben meist unterschiedliche staatliche Religionsorganisationen nach ihrer jeweiligen Rechtsschule und politischen Bedürfnissen ihre gewünschte Lehre vor und kontrollieren die jeweiligen Äusserungen ihrer ‘Religionsbeamten’.

Von ihrer einstmals weiten und grossen Vergangenheit, von den ursprünglichen Wurzeln ihrer Religion und den positiven Unterschieden der Religion der ‘Hingabe’ gegenüber der Religion der angeblich ‘einen wahren Kirche/Ideologie’, von dem bewussten Verzicht auf die Formulierung eines ideologischen Korsetts von Glaubensartikeln, erfahren auch Muslime heute nur noch sehr dämmerhaft. Es ist für die Muslime heute praktisch normal geworden, dass der Staat für alle Muslime innerhalb seiner Staatsgrenzen die Definition von Islam in festem Rahmen, wie eben im Westen abgeschaut, einheitlich vorgibt. Irgendwie wissen Muslime theoretisch meist noch, dass es im Islam eigentlich keine einheitliche Kirche gibt, dass es eigentlich unterschiedliche Mezheb gibt und unterschiedliche Wege innerer Entwicklung und dass diese ergänzende Vielheit in früheren goldenen Zeiten der islamischen Weltleitkultur die gelebte Realität darstellte. Doch eine praktische Relevanz hat es nicht mehr, in vielen Staaten wird selbst die Erinnerung daran aktiv unterdrückt.

Kein Muslim fühlt sich wohl mit der heutigen religiösen Situation und irgendwie hat diese unschöne neue Realität mit dem politischen Einfluss der christlich-westlichen Länder zu tun, doch jetzt wird das Nicht-Vorhandensein einer einheitlichen Lehre zum Nachteil. Es gibt gegenüber diesen staatlichen Akteuren keine organisierte Gegenkraft, weil selbst die Vielheit nicht als Prinzip, als Lehre ausformuliert worden ist, sondern ‘nur’ gelebt und praktiziert wurde. Die Vielfalt der ‘Hingabe’ ist einst absichtlich nicht in eine einheitliche Lehre gegossen wurden, um eben staatlichen Zugriff zu verhindern. Einst haben alle Rechtsschulenbegründer sich jeweils aktiv gegen damalige staatliche Übernahmeversuche gewehrt, keiner wollte seine Lehre zur einzig verbindlichen Lehre ausgerufen wissen. Dasselbe galt für die Begründer der Schulen der inneren Entwicklung. Doch heute ist dieses einstige islamische Wissen nur noch schemenhaft vorhanden.

Deshalb braucht es heute die Formulierung der qur’anischen Grundideen, um nicht nur für andere, sondern auch für die Muslime selbst wieder verständlich zu werden. Und zwar eine Formulierung in Unabhängigkeit von staatlichen und politischen Organisationen und aus einer umfassenden religiösen Erfahrung der islamischen Möglichkeiten heraus. Nicht eine begrenzte islamische Auffassung gegen die andere, sondern die Fülle dessen, was Islam dem einzelnen Menschen und auch menschlichen Gemeinschaften bieten kann.

Und eine Formulierung in einer heutzutage verständlichen Sprache und Denkungsart.

Ohne diese Formulierung, die eben die grundsätzliche Weite der Lehre der ‘Hingabe’ erklärt und ihre Praxisbetonung, bleibt der ‘Islam’ und seine religiöse Revolution relativ unverständlich – und das mittlerweile auch den Muslimen selbst.


2023-04-03 | Muslim Spiritual Talks